Eine Kultur des Dialogs entsteht

Friedemann Müller

Die Idee und bewusste Praxis des Dialoges ist nicht neu. Dies belegen anthropologische Untersuchungen und ein Jahrhunderte alter philosophischer Diskurs. Neu aber ist, dass der Dialog gerade in den letzten Jahrzehnten wieder in das Bewusstsein rückt und eine wachsende Bewegung von Dialogikpraktikern unterschiedlicher Disziplinen in Gang gebracht hat. In Pädagogik und Erziehung, in der Beratung und Therapie, im Management und in der Organisationsentwicklung ist der Dialog neu entdeckt worden. Wahrscheinlich ist das so, weil der Dialog eineAntwort auf zentrale Fragen unserer Zeit gibt: Wie können wir mit der Komplexität und Unsicherheit in unserer Zeit umgehen? Wie wird es möglich, zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsamer Verantwortung zu finden, wo Desinformationen und Polarisierungen öffentliche Konflikte zunehmend dominieren? Wie können wir zum Wesentlichen in unserem Leben finden? Und, wie wird es möglich, alte Muster zu verlassen und soziale Fantasie zu entwickeln, um damit zukunftsfähigere Wege zu beschreiten? Die Praxis des Dialogs ist ein Weg und gleichzeitig eine Antwort auf diese Fragen.

Kreisgespräch

Der Dialog ist das Gespräch, das nicht gewinnen will. Er verzichtet darauf, mit seiner Sicht der Dinge besser zu sein als die anderen und sich durchzusetzen. Er sucht immer etwas anderes, sonst wäre er kein Dialog. Er sucht genau das, was unter den Prinzipien der Gewinner-Spiele verloren geht, nämlich den offenen Raum, der einander anerkennt, vertieftes Verstehen ermöglicht, Ideen Flügel verleiht und Verbundenheit möglich macht. Meist wird unter dem Dialog, wenn umgangssprachlich vom ihm die Rede ist, ein Zwiegespräch oder das Gespräch auf Augenhöhe verstanden. Der Dialog aber, wie er heute wieder neu in den Blick rückt und wie wir ihn in unserer Arbeit verstehen, geht deutlich weiter. Er ist nicht nur eine Kommunikationsform oder Gesprächstechnik, sondern zu allererst eine Art und Weise der Weltbeziehung. Mit welcher Haltung will ich der Welt gegenübertreten? Das ist die Frage, für die der Dialog eine Antwort sein will. 

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“[1]– so fasst Martin Buber die zentrale Erkenntnis seiner Dialogphilosophie zusammen. Allein in der Begegnung mit der Welt und anderen erfährt der Mensch sich selbst und erfüllt sich das Menschsein. Nach Buber ist die dialogische Beziehung für das Menschsein konstitutiv. Der Mensch wird zum Menschen, weil er ein angesprochenes und antwortendes Wesen ist. „Der Mensch wird am Du zum ich.“[2]Diese grundlegende Erkenntnis kann nicht folgenlos bleiben, vor allem nicht wenn es um die Arbeit mit dem Menschen geht. Es ist heute deutlicher den je, wie zum Beispiel Heilungsprozesse in der Psychotherapie oder Lernerfolge in der pädagogischen Arbeit von der Qualität der Beziehung abhängig sind. Allein wenn ein Mensch in seinem So-Sein gesehen und bejaht wird, eröffnen sich ihm neue Möglichkeiten. Der Dialog will eine „wesenhafter Hinwendung“ zum anderen sein. Er ist also geprägt von einem umfassenden Interesse am anderen und einer riskanten Offenheit gegenüber dem anderen. Nicht überall ist es möglich und sinnvoll diesen Anspruch zu leben. Eine dialogische Haltung aber, getragen von Respekt, Offenheit und ernsthaftem Interesse, ist möglich und erst die Bedingung dafür, dass sich Begegnung ereignen kann. Verhindert wird sie in jedem Fall durch Unwahrhaftigkeit. Buber nennt dies dann „Vergegnung“.

Die Haltung gegenüber dem anderen prägt das zwischenmenschliche Geschehen. Eine dialogischeHaltung zeichnet sich durch ihre eröffnende Qualität aus. Diese entsteht durch die Bejahung des anderen (aber möglicherweise nicht seiner/ihrer Ansichten), dadurch das ein offener, unkontrolliert Prozess miteinander riskiert wird und durch die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen und bewusst dazu zu verhalten. Dann kann ein energetisches Feld, das nährend ist und Neues hervorbringt entstehen. So wie dies für das Geschehen zwischen zwei Menschen gilt, gilt das auch für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Prozesse. Überall wo eine eröffnende Qualität gebraucht wird, ist der Dialog eine wesentliche Ressource. Wo Gespräche wieder energievoll und lebendig werden sollen, wo besser und mehr verstanden werden will, wo neue Perspektiven und  innovative Ideen entwickelt werden sollen, da kann die eröffnende Qualität des Dialoges weiterführen. Das gilt gleichermaßen für kleine Gruppen oder Unternehmen, wie für die Gesellschaft insgesamt. Und weil sich eine lebendige Demokratie nicht im Wahlgang erschöpft, sondern von Aushandlungsprozessen, also dem Gespräch lebt, gehört der Dialog wesenhaft zu einer demokratiegetragenen Gesellschaft. In den aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erleben wir, wie weit wir davon zuweilen entfernt sind. Deswegen scheint es geboten, den Dialog, wie wir ihn hier verstehen, bewusst in der Gesellschaft zu kultivieren. Das könnte eine Chance zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher Streitkultur und zum Umgang mit Vielfalt sein. Voraussetzung für solch einen Veränderungsprozess und das Gelingen eines jeden Dialoges bleibt die Bereitschaft dazu. Wo sich Menschen dem Gespräch verschließen, wo es nur darauf ankommt die eigene Position durchzubringen oder wo manipuliert wird ist kein Dialog möglich. Eine im Geist des Dialoges ausgesprochene Einladung zum Gespräch kann vielleicht dennoch eröffnend sein. 

Nach den Arbeiten des Physikers David Bohm liegen die Ursachen für viele persönliche wie gesellschaftliche Probleme in der Art und Weise des Denkens. Die Lösungen für Probleme sind nach seinem Verständnis immer schon da und müssen nur gefunden werden. Dies geschieht zum einen indem der Vorgang des Denkens selbst zum Gegenstand der Beobachtung wird. Denn, meist bleiben die Bewertungen und Entscheidungen im Denkprozess unbewusst. „Das Denken bewirkt etwas, sagt aber, ich war´s nicht.“[3]  – stellt Bohm fest. Es läuft nach seiner Ansicht oft stillschweigend ab und wird selten selbst beobachtet. Im von ihm entwickelten Dialogverfahren für Gruppen finden wir deshalb eine Gelegenheit, um persönliche kognitive Landkarten, Reflexe und Muster des Denkens bewusster wahrzunehmen. Dabei ist es vor allem die Verlangsamung, die den Raum schafft, den Denkvorgang selbst zu beobachten. Die Wahrnehmung des eigenen Denkens führt dann weg von jeder Rechthaberei in den Gesprächsbeiträgen, weil sie die Geschichte und Hintergründe der persönlichen Wertungen bewusst macht und damit ihre Begrenztheit. Wird einander von diesen Hintergründen erzählt, bringen sie das gegenseitige Verstehen und neue Einsichten deutlich voran.

Solche Bewusstheit vom persönlichen Denken kann im Dialog zum zweiten zu einem lebendigen kollektivenDenken führen. Nicht das Vergangene, das schon einmal Gedachte, steht dann im Fokus der gemeinsamen Suchbewegung, sondern das was im Gemeinsamen entstehen will, das Mögliche. Die Vielfalt der Teilnehmenden eines Gespräches bildet Aspekte des Ganzen ab. Allein das ist schon wertvoll. Verwandeln diese sich aber in ein Feld des gemeinsamen Denkens, können überraschende Einsichten gewonnen werden. Der Dialog erfüllt sich dann als Begegnung im Denken. Sinn fließt durch die Worte hindurch, eben ein Dia-log. 

Wir sind aufeinander angewiesen. Das ist eine ontologische Bedingung des Menschen. Die großen Fragen unserer Zeit werden wir nur gemeinsam lösen. Jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird uns dies wieder sehr deutlich. Auch die anderen Fragen in den unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens, werden zu tragfähigerer Qualität führen, wenn die Antworten gemeinsam gefunden werden. Eine Kultur des Dialogs entspricht dieser Herausforderung, bringt Menschen zueinander und zeigt einen zukunftsfähigen Weg auf. Darum setzen wir uns dafür ein. 


[1]Martin Buber, Das dialogische Prinzip, 13. Aufl (Gütersloh: Gütersloher Verl.- Haus, 2014).

[2]Buber.

[3]David Bohm, Der Dialog: Das Offene Gespräch Am Ende Der Diskussionen, ed. by Lee Nichol, trans. by Anke Grube, 7. Auflage (Stuttgart: Klett-Cotta, 2014).

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